Züchterporträt Christine Nagel
Die Bingenheimer Saatgut AG ist DIE Adresse für hochwertiges biologisches Gemüse-Saatgut in Deutschland. In den letzten Jahren hat das Unternehmen zusätzlich einen eigenen Fachbereich Züchtung aufgebaut.
Christine Nagel, Gärtnerin mit langer Züchtungserfahrung, schildert die aktuellen Projekte des kleinen Teams.
Veredelung von Gurkenpflanzen
„Es mag überraschen, aber auch im Bio-Anbau sind hybride Gurkenunterlagen Standard“, berichtet. Gurken sind sehr krankheitsanfällig und der Anbau im Gewächshaus ist durch viele Krankheitserreger im Boden kaum möglich. Daher werden Gurken-Jungpflanzen auf Kürbisunterlagen veredelt, in aller Regel sog. F1-Hybriden. Diese bieten den Vorteil, dass sie Resistenzen z.B. gegen Fusarium, Verticillium usw. aufweisen und somit die Gurkenpflanzen vor den Krankheiten bewahren. Allerdings stammen diese Hybride meist aus Asien und werden unter fragwürdigen Bedingungen hergestellt.
Generell funktionieren Hybride nur in der 1. Generation zuverlässig. In den Folgegenerationen spaltet sich die Erbinformation auf, sodass die Eigenschaften der Nachkommen unvorhersehbar sind. „Einige der Kürbis-Hybriden basieren außerdem auf einer Verkreuzung zwischen Cucurbita moschata und Cucurbita maxima. Diese interspezifischen Hybriden weisen eine Pollensterilität auf und bilden keine Nachkommen“, erklärt die Züchterin. Viele Bio-Landwirt:innen und -gärtner:innen sehen Hybride kritisch. Sie möchten „Bio von Anfang an“ anbauen und suchen samenfeste Alternativen, auch für Gurkenunterlagen.
Samenfeste Gurkenunterlagen
Nagel wollte herausfinden, welche Eigenschaften die Nachkommen der hybriden Kürbispflanzen haben, die als Gurkenunterlage verwendet werden. „Bei unserem Test ging es um Cucurbita moschata, Moschuskürbis-Pflanzen. Sie sind die gängigen Unterlagen für Gurken“, berichtet sie. Wie erwartet, wiesen die Nachkommen der Hybridpflanzen (F2) sehr verschiedene Frucht- und Blatttypen auf. Dennoch veredelte Nagel Gurken auf diesen Pflanzen und drei Anbaubetriebe bauten diese Gurken parallel zu den gängigen Pflanzen auf Hybridunterlagen an. Das Ergebnis war für alle verblüffend: „Wir konnten keinen Unterschied feststellen“, berichtet die Gärtnerin. Sie probierte weiter und nahm auch Veredelungen auf der 3. und 4. Generation der Nachkommen vor. Diesmal wollten mehrere große Anbaubetriebe einen Testanbau machen.
Nagel zögerte, eine größere Menge Saatgut der Hybridnachkommen zur Verfügung zu stellen. „Wenn die Unterlage nicht funktioniert, ist der finanzielle Schaden direkt sehr groß“, schildert die Züchterin ihre Bedenken. Doch auch diese Tests liefen an mehreren Standorten sehr gut. Zur Vervollständigung der eigenen Beobachtungen startete zu den Gurkenunterlagen dieses Jahr ein vom Bund gefördertes Projekt mit dem Julius-Kühn-Institut und der Uni Kassel. In diesem Projekt soll untersucht werden, wie die Wurzeln der „dehybridisierten“ Linien im Vergleich zu den Hybridunterlagen auf die mit den Pilzerregern infizierten Erde reagieren. „Aus einem kleinen Test ist eine große Sache entstanden“, freut sich die Züchterin.
Gute Ökobilanz und sehr schmackhaft
Nagel kann über ein weiteres vielversprechendes Projekt berichten. „Wir haben unglaublich viele Nachfragen von Solidarischen Landwirtschaften (Solawis) und Direktvermarktern nach Winterblumenkohl“, berichtet sie. Ein Anbau von Blumenkohl über den Winter war in Deutschland in Vergessenheit geraten, weil sich die Lieferungen aus Südeuropa etabliert haben. Um auf die aufkommende Nachfragen zu reagieren, hat das Züchtungsteam der Bingenheimer Saatgut AG eine umfangreiche Sichtung von Sorten aus dem Sortenarchiv der Züchtungsvereinigung Kultursaat e.V. vorgenommen. Winterblumenkohl wird im Juli gesät, im August gepflanzt und wächst dann den ganzen Winter durch – im Freiland. Die Ernte findet gegen Ende April statt.
Der Blumenkohl benötigt weder für die Anzucht noch für das Wachstum zusätzliche Wärme. Auch einige Frostgrade übersteht Winterblumenkohl problemlos. Ab etwa -5°C wird mit Vlies zugedeckt. „Winterblumenkohl hat eine gute Ökobilanz, weil er ohne viel Zutun im Freiland wächst“, berichtet Nagel stolz. Ihr Favorit: eine alte englische Sorte, die hohe Aberntequoten, gute Blumenqualitäten und einen vorzüglichen Geschmack aufweist. Die besten Pflanzen bleiben im Frühjahr auf dem Feld stehen und dienen der Saatgutproduktion. „Bereits im nächsten Jahr können wir Versuchssaatgut abgeben“, kündigt die Züchterin an.
Spinat – Heterogenes Material
Mit Begeisterung stellt Nagel ein weiteres Projekt des Teams vor. Es geht um die Züchtung einer Spinat-Population, die als sog. Heterogenes Material angemeldet werden soll. Die EU-Öko-Verordnung aus dem Jahr 2022 ermöglicht erstmals die Vermarktung von ökologischem Pflanzenvermehrungsmaterial mit hoher genetischer Vielfalt, abgekürzt ÖHM. Dieses kann behördlich angemeldet, registriert und in Verkehr gebracht werden. „Von einer Spinat-Population versprechen wir uns eine gewisse Resilienz gegen typische Krankheiten. Eine Population ist in ihrer Gesamtheit vitaler. Auch wenn eine Pflanze von einer Krankheit befallen ist, gibt es andere im Bestand der Population, die mit der Krankheit klarkommen“, erklärt Nagel die Ziele.
Für das Projekt schaute sich das Team Dutzende Spinatsorten an, sowohl samenfeste Sorten als auch Hybride, und selektiert seit mehreren Jahre auf Ertrag, Wüchsigkeit und Gesundheit. Andere Kriterien wie Blattfarbe und -form werden mit einer deutlich höheren Variabilität akzeptiert, was bei einer herkömmlichen Sortenanmeldung nicht möglich ist. „Bei einer Kultur wie Spinat, die als Menge vermarktet wird, sind die Anforderungen an die Homogenität im Markt geringer. Es macht Freude, die verschiedenen Ausprägungen zusammen auf dem Feld zu sehen“, findet die Züchterin.
Der Weg zur Züchtung
Schon seit 1994 ist Christine Nagel (Jg. 1965) in der Saatgut- und Züchtungsarbeit aktiv. Nach Tätigkeiten in Staudengärtnerei und Baumschule, entdeckte sie den Bio-Gemüseanbau für sich. An der Landbauschule am Dottenfelderhof in Hessen bildete sich dafür fort. Dort lernte sie die Arbeit des biologisch-dynamischen Züchtungspioniers Dieter Bauer kennen, die ihre weitere berufliche Laufbahn prägte. Über viele Jahre war sie Mitarbeiterin der Geschäftsstelle von Kultursaat e.V. „Dann wollte ich wieder selbst züchten, aber diesmal im Team“, berichtet Nagel. Das Angebot der Bingenheimer Saatgut AG, in die neue Abteilung Züchtung zu wechseln, kam da gerade recht. Der enge Draht zu Kultursaat besteht weiterhin: die beiden Organisationen arbeiten seit jeher eng zusammen, beide sind in den 1990er-Jahren aus dem „Initiativkreis für biologisch-dynamisches Saatgut“ hervorgegangen.
„Hier wie dort arbeiten wir daran, dem biologischen Land- und Gartenbau in Zukunft ein möglichst großes Sortiment von nachbaufähigen Sorten für den Profianbau zur Verfügung zu stellen“, konstatiert die Gärtnerin. So versteht sich die Züchtungsarbeit der Bingenheimer Saatgut AG als Ergänzung zu den Projekten von Kultursaat: „Die Züchtung von Unterlagen z.B. wäre für einen Kultursaatzüchter eher uninteressant, weil es nur auf die Wurzeleigenschaften ankommt und nicht auf Optik und Geschmack.“, erläutert sie. Trotzdem müssen wir noch mehrere Generationen beobachten und die Eigenschaften auf Herz und Niere prüfen. „Wir hoffen in wenigen Jahren eine samenfeste Sorte für Gurkenunterlagen anbieten zu können“, freut sich Nagel. Das wäre ein großer Erfolg!
Fotos: bioverita