Porträt von Züchterin Noémi Uehlinger
Noémi Uehlinger (Jg. 1984) studierte Umweltwissenschaften an der ETH in Zürich, als sie bei einer Möhrensaftverkostung Feuer fing – für Möhren, für die Züchtung und für die Sativa Rheinau AG. „Ich dachte, was ist das für ein schöner Beruf, daran arbeiten zu können, dass Möhren schmecken, und dass sie gut sind“,
berichtet Uehlinger von dieser ersten eindrücklichen Begegnung mit Sorten aus der Bio-Züchtung. „Das hat mich zu meinem ersten Praktikum bei der Sativa Rheinau AG gebracht.“
Der Weg zur Züchtung
Nachdem sie hier eine ganze Saison mitgearbeitet hatte, entschied sie sich für die Fächer Organic Agriculture und Pflanzenzüchtung an der Universität Wageningen in den Niederlanden, um einen doppelten Master zu absolvieren. Zum Abschluss des Studiums machte sie noch einmal ein langes Praktikum bei der Sativa und blieb schließlich für eine Festanstellung, die bis heute andauert. Zehn Jahre ist das nun her.
„Damals gab es bei der Sativa nicht wie heute ein Anbau- und ein Züchtungsteam mit getrennten Aufgaben. Friedemann Ebner [ebenfalls Pflanzenzüchter], und ich haben viele gärtnerische Arbeiten erledigt. Das war sehr lehrreich für mich, da ich keine Gärtnerausbildung hatte“, blickt Uehlinger zurück. Nach Ebners Ausscheiden Ende 2020 hat sie die Koordination des Züchtungsbereichs bei der Sativa übernommen.
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Zusammen mit Ebner kümmerte Uehlinger sich um die Züchtung einer Vielzahl von Kulturen. Nach einigen Jahren übernahm sie die Hauptverantwortung für mehrere Züchtungsprojekte: frühe Möhren, Brokkoli, Fenchel und Zucchini. Die Züchtung von Fenchel und Zucchini zielte auf Sorten für den Anbau speziell in Italien. Anstoß gab der italienische Großhändler Ecor, der sein Sortiment um samenfeste Sorten dieser Kulturen aus Bio-Züchtung erweitern wollte.
Nach wie vor spielt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit eine besondere Rolle bei der Sativa. Das Unternehmen sucht immer wieder aktiv nach Züchter:innen im Ausland, die auf eine bestimmte Art spezialisiert sind und sich bereit erklären, zusammen mit der Sativa Biosorten zu entwickeln. „Da viele Kulturen in den Wintermonaten südlich der Alpen angebaut werden, können wir nicht alle Sorten allein in der Schweiz entwickeln,“ stellt Uehlinger klar.
Züchtung mit und für andere Standorte
Wenn es um die Entwicklung von Sorten für andere Anbauregionen geht, sammelt Uehlinger mit ihren Kolleg:innen zunächst in Rheinau und an anderen nahen Standorten Erfahrung mit einer Kultur, selektiert und nimmt Kreuzungen vor. Erst wenn es eine Reihe von vielversprechenden Züchtungslinien gibt, werden diese dann parallel im Ausland angebaut, um ihr Verhalten unter den anderen klimatischen Bedingungen zu beobachten. Uehlinger koordiniert mehrere dieser Projekte, beispielsweise arbeitet sie derzeit an Fenchel und Tomaten in Rheinau.
Parallel gibt es jeweils einen Züchter bzw. eine Züchterin in Italien, die im Auftrag der Sativa tätig sind. „So entsteht ein enger Austausch, der sehr befruchtend ist. Beide Seiten erweitern ihre Expertise und wir erfahren viel über regionale oder lokale Anforderungen einer Kultur“, berichtet sie. Natürlich besteht aber auch im deutschsprachigen Raum ein enger Austausch mit den Züchter:innen von Kultursaat e.V. oder saat:gut e.V.
Auf der Suche nach neuen Methoden
Die Möhren, die die Initialzündung für ihren beruflichen Werdegang gegeben haben, sind zu einem Schwerpunkt von Uehlingers Arbeit geworden. Auch wenn es inzwischen eine Reihe neuer Möhrensorten aus Bio-Züchtung gibt, allein 16 sind bereits bioverita-zertifiziert, geht die Züchtung hier weiter. „Da wir mit der intensiven Massenselektion an verschiedenen Standorten an unsere Grenzen kommen, denken wir über andere Methoden nach und probieren einiges aus.
Das ist ein großer Teil meiner Arbeit“, beschreibt Uehlinger ihre komplexe Tätigkeit. Ihre langjährige Erfahrung aus der Züchtung ergänzt sie daher aktuell mit einem Zusatzstudium bei der sogenannten Plant Breeding Academy. Diese wird von der Universität Davis in Kalifornien für praktizierende Züchter:innen in Europa organisiert. Das hat der Züchterin viele Kontakte und neue methodische Erkenntnisse eingebracht, die nun schrittweise im Team ausprobiert werden.
Sorten in der Bewährungsprobe
Aber warum braucht es überhaupt noch mehr Möhrensorten? „Möhren haben verschiedene Vermarktungsformen: die Frischvermarktung einzeln oder im Bund, Lagermöhren für das Winterhalbjahr sowie Industriemöhren für die Verarbeitung beispielsweise in Brei oder Suppen.
Daneben gilt es, verschiedene Anbauzeiträume und klimatische Unterschiede beim Anbau zu berücksichtigen“, erklärt die Züchterin. An der Entwicklung der Sorte Amiva war sie direkt beteiligt, einige weitere Sorten tragen bisher nur Nummern, da sie noch vor der Anmeldung stehen.
Herausforderung Kohl
Anders sieht es beim Brokkoli aus. Hier konnte bisher keine Sorte gezüchtet werden, die den Anforderungen des Erwerbsanbaus entspricht und mit der Zuverlässigkeit der Hybridsorten vergleichbar wäre. Besonders der homogene Wuchs und die gleichzeitige Abreife der Köpfe stellen die Züchter vor Herausforderungen. Bei Möhren oder Kohlrabi verzehren wir den vegetativen Teil der Pflanze. Bei Brokkoli oder Blumenkohl ist es der Kopf, der kurz vor der Blüte steht. „Das ist der entscheidende Unterschied, denn in diesem Stadium laufen unheimlich viele Prozesse in der Pflanze ab. Es ist viel mehr involviert als bei dem vegetativen überwinternden Teil der Wurzelgemüse“, erklärt Uehlinger.
Im Erwerbsanbau, der für den Großhandel produziert, ist es essenziell, dass die zu erntenden Brokkoli- oder Blumenkohlköpfe gleichzeitig reif sind. Das Erntefenster ist meistens kurz: nach zwei, höchstens drei Durchgängen innerhalb von zehn Tagen muss alles abgeerntet sein. Alles, was länger dauert, ist zu aufwendig und nicht rentabel. Zum Glück gibt es eine wachsende Zahl von alternativen Vermarktungsformen, bei denen die Rentabilität nicht an erster Stelle steht. Gerade Solidarische Landwirtschaften oder Market Garden-Betriebe schätzen die samenfesten Sorten aus der Bio-Züchtung.
Die nächsten Schritte
Was für sie die Züchtungsarbeit ausmacht? „Für mich hat die biologische Züchtung zwei Seiten: eine theoretische, die Planung, Nachdenken, Hinterfragen erfordert. Daneben die praktische, tatkräftige Seite während der Anbausaison, wenn auf dem Acker oder in den Gewächshäusern vieles gleichzeitig passieren muss. Beide Seiten sind wichtig und kommen ohne die andere Seite nicht aus“, fasst Uehlinger zusammen. Gleichzeitig beschreibt die Züchterin die Spannungsfelder zwischen Ertrag und Qualität sowie den aktuellen wie zukünftigen Anforderungen:
„Die heutigen Marktanforderungen geben konkrete Ertragsziele vor. Gleichzeitig möchte ich mich mit zukünftigen Anbau- und Vermarktungssystemen beschäftigen und sie konkret mitgestalten“, beschreibt sie den täglichen Balanceakt. Dass es noch nicht genügend Sorten für die spezifischen Anforderungen des Biolandbaus gibt, motiviert sie weiterzumachen. Mit dem Ziel, Alternativen zu schaffen angesichts der hohen Konzentration in der Saatgut- und Züchtungswelt, habe ihre Arbeit zudem eine konkrete politische Dimension.
Faszination für die Möhren
Bei allen Herausforderungen hat sich Uehlinger ihre Begeisterung für die Möhren bewahrt: „Es ist jedes Jahr wieder faszinierend, wie viel Kraft in den Möhren steckt. Die Exemplare, die wir für die Vermehrung selektiert haben, lagern den ganzen Winter.
Man schneidet sie an, pflanzt ein kleines Stück und daraus wächst ein Baum, der im Sommer lange blüht und schließlich Samen erzeugt. Das ist immer wieder ein Erlebnis!“
Fotonachweis: Fotos 1 und 7 bioverita, Foto 3 Naturkost Schramm, Foto 5 (Möhren-Collage) und 6 Bingenheimer Saatgut AG und Sativa Rheinau AG, Fotos 2, 4, 8 und 9 Sativa Rheinau AG