Züchterporträt Christina Henatsch
Ein heißer Sommertag. Besuch bei Kultursaat-Züchterin Christina Henatsch auf Gut Wulfsdorf in Ahrensburg bei Hamburg. Die Züchterin bietet ihren Gästen kühles Wasser aus einer Karaffe an, um damit Hände und Gesicht zu benetzen. Ein wunderbar frisches Gefühl breitet sich aus auf der Haut. Jede:r hat das wohl schon einmal erlebt und erinnert die wohltuende Abkühlung, die sich für einen kurzen Moment breitmacht. Aber dieses Wasser scheint anders zu sein:
Die Erfrischung hält an, auch dann noch, als das Wasser längst verdunstet, die Haut getrocknet ist. Trotz Hitze ist der Geist hellwach, man fühlt sich förmlich belebt. Es sind Queckenwurzeln, berichtet Henatsch, die über Nacht eingelegt, das Wasser in dieser Art erfrischen. Quecken? Die Gemeine Quecke (Elymus repens) gehört zu den Gräsern. Sie bildet rhizomartige Ausläufer und zählt damit zu den Wurzelunkräutern, die üblicherweise besonders unbeliebt und schwer zu bekämpfen sind.
Die Vitalität der Wildpflanzen
Die Züchterin dagegen sieht in der hohen Vitalität des „Unkrauts“ ein Potenzial, das nicht nur unseren Geist beleben, sondern vielleicht zukünftig auch unsere Ernährung ergänzen könnte. Seit mehreren Jahren beschäftigt sie sich mit Wildpflanzen wie der Quecke, mit dem Steppengras Dasypyrum, Weicher Trespe oder dem Löwenzahn, um herauszufinden, ob man aus ihnen Kulturpflanzen entwickeln kann.
„Die Kulturpflanzen sind Kulturbegleiter des Menschen, sie entwickeln sich mit dem Menschen mit. Je nachdem, mit welcher Haltung oder Frage ich an eine Pflanze herangehe, erhält sie eine bestimmte Ernährungsqualität. Diese trägt die Pflanze bereits in sich“, ist Henatsch überzeugt. „Die Herausforderung ist, herauszufinden, wie eine Wildpflanze zur Kulturpflanze wird.“
Im Austausch mit der Pflanze
Diese Frage beschäftigt die Züchterin rein praktisch auf züchterischer Ebene, aber auch spirituell. Es ist typisch für biologische Züchter:innen, dass sie eine sehr intensive Beziehung zu den Pflanzen eingehen, mit denen sie tagtäglich arbeiten. Nur so erkennen sie im Pflanzenbestand aus zum Teil Hunderten Exemplaren verschiedene Typen oder bestimmte Eigenschaften, die sich durch Selektion weiterentwickeln lassen und irgendwann zu spezifischen Sorteneigenschaften werden.
Bei Henatsch geht diese intensive Beziehung seit einiger Zeit noch weiter. „Ich gehe im Rahmen von Meditationen in den intensiven Austausch mit den Pflanzen. Ich befrage sie, wohin sie sich entwickeln möchten“, beschreibt sie ihre Form der Auseinandersetzung. Das mag abwegig klingen, Henatschs züchterische Erfolge belegen aber, dass sie mit ihrem Gespür sehr erfolgreich ist.
Ausbildung und Prägung
Inzwischen blickt die Expertin zurück auf über zwanzig Jahre der biodynamischen Züchtung. Ihr erster Berührungspunkt war ein Seminar von Getreidezüchter Georg Wilhelm Schmidt. Dieser führte die Arbeit seines Vaters, Martin Schmidt, fort. Schmidts Vater gehörte in den 1920er-Jahren zu den ersten Biodynamikern, die unmittelbar von den landwirtschaftlichen Vorlesungen Rudolf Steiners beeinflusst waren und hatte den sog. Schmidt-Roggen entwickelt.
Weder in ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung am Warmonderhof in Holland, einer Schule für biologisch-dynamischen Land- und Gartenbau, noch während ihres Studiums der Agrarwissenschaften an der Uni Bonn, spielte die Züchtung allerdings eine Rolle, stellt Henatsch bedauernd fest.
Der Weg zur Züchtung
Anknüpfungspunkte fand sie erst Ende der 1980er-Jahre wieder beim „Initiativkreis für biologisch-dynamisches Saatgut“. Hier trafen sich Gärtner:innen und Landwirt:innen, die samenfeste Sorten erhalten und weiterentwickeln wollten. Angesichts der immer weiter verbreiteten Hybridsorten teilten sie ihr Wissen zur Saatgutvermehrung und schlossen sich schließlich zum Verein Kultursaat zusammen.
In diesem Kontext gab Henatsch bald selbst Schulungen zu den Themen „Hybrid“ und „Samenfest“ und begann, wie viele ihrer Kolleg:innen aus dem Initiativkreis, mit eigenen Züchtungsprojekten.
Erfolgreiche Sorten
Seit 21 Jahren ist Henatsch auf Gut Wulfsdorf als Züchterin ansässig. Hier beschäftigt sie sich mit einem breiten Spektrum an Kulturen, die sie mithilfe der Selektion und der beschriebenen Meditationstechnik bearbeitet: Bohnen, Brokkoli, Kohlrabi, Mangold, Melonen, Möhren, Lauch, Rot-, Weiß- und Spitzkohl, Radicchio, Salat, Schnittlauch, Spinat, Zucchini und Zuckerhut. Elf neue Gemüsesorten aus ihrer Züchtung sind bereits beim Bundessortenamt angemeldet.
Mehrere sind im Anbau, bzw. der Verarbeitung, inzwischen sehr gut etabliert: So macht z.B. ihre Möhre Solvita etwa 70% des Möhrensaftes der Firma Voelkel aus. Die beliebte Mangoldmischung „Rainbow“ im Sortiment der Bingenheimer Saatgut AG besteht aus Henatschs Mangoldsorten Limago, Pirol, Roscho und Salimo.
Bitter, kratzig, sauer, süß
Anhand des Mangolds beschreibt die Züchterin anschaulich die vielschichtigen Anforderungen, die sie beim Züchten einer neuen Sorte beachten muss. „Die technische Anbauqualität muss stimmen, also braucht es eine gute Beerntbarkeit und guten Ertrag. Die Wuchsform sollte aufrecht sein, die Stiele dick. Die Stiele sollten eine leuchtende Farbe haben, die auch beim Kochen bleibt“, führt Henatsch aus.
Um die Farbbeständigkeit zu testen, kocht sie die Stiele von 60–80 ausgewählten Pflanzen, bis sie weich sind. Anschließend probiert sie das Kochwasser: Ist es bitter, süß oder fruchtig? Dann wird der Stiel selbst gekostet: Ist er bitter, kratzig, sauer, fade?
Wie neue Sorten entstehen
„Alles, was nicht gut schmeckt, wird aussortiert“, fasst Henatsch zusammen und berichtet, dass anfangs nur eine oder zwei von 40 Mangoldpflanzen genießbar waren. „Nach fünf Generationen der Selektion hatten wir einen süßen, fruchtigen Mangold mit leicht herber Note.“ Die vier Mangoldsorten der Mischung Rainbow haben grüne oder lila Blätter.
Die Stiele variieren von leuchtend gelb, zu orange, über rot zu lila. Dennoch züchtet Henatsch weiter. „Das Orange ist (noch) nicht stabil“, erklärt sie. „Orange ist beim Mangold eine Kreuzung aus weiß, gelb und rot. Deshalb sieht man auf dem Feld die Aufspaltung in weißgelb, in weißlila und in rot.“
Pflanzen für die Zukunft
Ob die Quecke es auch einmal in die Saatgutkataloge schafft? Die nächsten Jahre werden es zeigen. Jedenfalls mache es sie glücklich, die Quecken alle sechs Wochen nach verschiedenen Eigenschaften zu selektieren, sagt Henatsch.
Drei unterschiedliche Typen heben sich schon deutlich voneinander ab: Der Wurzeltyp, der Sprosstyp und der Samentyp. Sie alle könnten unser Leben einmal bereichern.
Fotonachweis: Foto 2: The Ohio State University Weed Lab Image Archive, Foto 9: Russ Kleinman, Bill Norris, & Kelly Kindscher, Black Range, McKnight Peak; Rest bioverita