Auf den Spuren der Bio-Züchtung in Italien
bioverita und die Initiativen rund um die Bio-Züchtung bilden im deutschsprachigen Raum ein immer dichter werdendes Netz rund um die Bio-Züchtung. Weniger bekannt ist, dass auch Italien eine wichtige Rolle spielt, wenn es um Züchtung, Vermehrung, Anbau, Verarbeitung und Vermarktung neuer Sorten aus der Bio-Züchtung geht. Vom 6. bis 9. Juli 2021 begaben wir uns daher zusammen mit Partner:innen aus Handel und Institutionen aus
Deutschland und der Schweiz auf Tour. Unser Ziel: die Mitte Italiens. Was wir dort antrafen? Überzeugte Bio-Pioniere, große wie kleine erfolgreiche Vermarktungsstrukturen, Gemüse und Getreide aus Bio-Züchtung auf den Feldern, herrliche Pasta aus biogezüchtetem Getreide sowie wichtige Hersteller, die dabei sind, Sorten aus Bio-Züchtung für sich zu entdecken.
Warum Italien?
Italien hat mit über 70.000 die mit Abstand meisten Bio-Erzeuger in der europäischen Union, Tendenz steigend. Laut Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) waren 2019 dort knapp 2 Millionen Hektar (ha) biologisch bewirtschaftet, was 15,2 % der gesamten Agrarfläche entspricht. Im Vergleich dazu waren es in Deutschland 1,61 Millionen ha und nur 9,1 %. Trotz wachsender inländische Nachfrage nach Biolebensmitteln in Italien, ist vieles für den Export bestimmt. So ist Italien aufgrund der klimatischen Bedingungen nach Spanien das wichtigste Erzeugerland für Bio-Gemüse für den deutschen Markt. Gefragt sind neben Fruchtgemüse (Gurken, Paprika, Tomaten) auch die hierzulande sehr beliebten Kohlrabi.
In der Region Emilia Romagna sind traditionell viele Betriebe auf die Saatgutvermehrung spezialisiert. Das warme, trockene und beständige Wetter an der Ostküste von Bologna bis in die südlichen Marken ermöglicht eine vollständige Ausreifung der Samen, auch bei Kulturen, die in Deutschland zwei Jahre für die Vermehrung brauchen. Und nicht zuletzt fördern mehrere italienische Bio-Pioniere seit vielen Jahren die Bio-Züchtung und testen inzwischen erste Sorten im Anbau. So gibt es dort neben Züchtungsprojekten und Versuchsanbau für neue Sorten, eben auch den kommerziellen Anbau von Sorten aus Bio-Züchtung sowie die Saatgutvermehrung. Viele Gründe also, nach Italien zu reisen.
Kompetenz an Bord
Organisiert wurden die Reisestationen von Federica Bigongiali, die sich an der Uni Pisa mit der Züchtung von Hartweizen beschäftigt hat und als Agrarwissenschaftlerin den Anbau und die Vermehrung verschiedener Kulturen in Italien für die Sativa Rheinau AG koordiniert. Gleichzeitig leitet sie die Stiftung «Seminare il Futuro», von der später noch die Rede sein wird, und kooperiert für mehrere Züchtungsprojekte mit der Uni Pisa. Mit dabei außerdem Amadeus Zschunke.
Der ausgebildete Pflanzenzüchter mit Managementqualitäten, Gründer der Sativa Rheinau AG sowie von bioverita beantworten jederzeit sehr anschaulich jede nur erdenkliche Frage zur Bio-Züchtung. Treibende Kraft für die Durchführung der Reise war außerdem Markus Johann, Gründungsmitglied und Geschäftsleiter von bioverita, ausgestattet mit viel Geduld, Erfahrung und den nötigen Kontakten, um die Bio-Züchtung voranzubringen. Kompetent unterstützt wurden die drei von Fausta Borsani, dank ihres Organisations- und Sprachentalents.
Rollendes Kontaktzentrum zur Bio-Züchtung
32 Grad, blauer Himmel, Sonnenschein, 14 Uhr, eigentlich Zeit für die Siesta. Doch nach langer Anreise sind alle natürlich gespannt auf den Start der Gruppenreise. Fahrer Iulian Anuculaesei erwartet uns am Hauptbahnhof in Bologna mit einem großen Reisebus. Coronabedingt ist der Bus größer ausgefallen als normalerweise üblich. So gibt es während der zum Teil mehrstündigen Fahrten viel Platz für spontane Gesprächsgruppen und kleine Konferenzen in den unterschiedlichsten Konstellationen.
Fahrer Iulian wird uns mit Bravour 1.380 km durch die Emilia-Romagna, die Toskana und die Marken navigieren. Selbst angesichts von Serpentinenstraßen, engen historischen Gassen sowie dicht bewachsenen staubigen Feldwegen mit Schlaglöchern strahlt er eine erstaunliche Ruhe aus. Zudem versorgt er uns schwitzende Nordländer mit einem unerschöpflichen Vorrat an gekühlten Wasserflaschen. Wir sind stolz auf ihn!
Die erste Station …
… führt uns in die Zentrale und das Logistiklager von EcorNaturaSì. Hier empfängt uns Fabio Bescacin, Bio-Pionier in Italien sowie Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender der EcorNaturasì AG. Seit vielen Jahren unterstützt das Unternehmen biologische Züchtungsprojekte und Anbauversuche mit neuen Sorten in Italien. Seit 2019 fließt dieses Engagement in die Stiftung «Seminare il Futuro» ein, die sich um den Erhalt und die Weiterentwicklung von Landsorten kümmert. Gleichzeitig fördert sie
finanziell die Entwicklung neuer Sorten, z.B. von Hartweizen für die Pastaproduktion. Den künftigen Einsatz von Sorten aus Bio-Züchtung sieht Fabio als Teil der Qualitätsoffensive des Unternehmens. Sorten aus Bio-Züchtung reagieren schließlich von sich aus resilienter auf Krankheiten und brauchen daher weniger synthetische Pestizide. Fabio erläutert uns die langjährige Vorgeschichte der AG, zu der bis heute zwei eigene Biohöfe gehören.
Bio für ganz Italien
Die AG entstand 2005 als Zusammenschluss von Ecor, dem ersten Großhändler für Bioprodukte in Italien, mit NaturaSì, einer Biosupermarktkette mit inzwischen 360 Standorten. Die zwei Lager in Bologna und San Vendemiano halten insgesamt etwa 21.000 Produkte vor. Der Großhändler beliefert neben seinen eigenen Märkten 160 weitere Naturkostfachhändler in ganz Italien mit etwa 90.000 Warenboxen pro Woche, darunter 10-12.000 mit Obst- und Gemüse.
An sechs Tagen die Woche können die Läden bis 19 Uhr bestellen, während der Nacht wird gearbeitet. Um die Auslieferung am nächsten Morgen zu gewährleisten, braucht es eine reibungslose, hochmodernde Logistik. Mario Cicolecchia, Leiter der Logistik, führt uns durch die verschiedenen Bereiche des Lagers und erläutert dabei die jeweiligen Aufgaben und Herausforderungen.
Der Käfig für die Bestseller
Staunend begutachten wir nicht nur das Hochregallager, sondern auch einen riesigen „Käfig“, in dem die etwa 600 Bestseller des Lagers vollautomatisiert bewegt werden. Fasziniert fotografieren wir Roboterarme, die kartonweise Ware für die Auslieferung zusammenstellen. Gleichzeitig sind wir beruhigt zu hören, dass auch 300 Menschen in dem Lager arbeiten.
Trotz aller Technik braucht es für viele Bereiche Kopf und Hände intelligenter Mitarbeiter:innen, bekräftigt Mario. Einer von ihnen begleitet uns auf Schritt und Tritt durch das Lager und hat ein Auge darauf, dass wir nicht unter die Räder oder in Rolltore geraten …
La dolce vita
Zum Glück haben wir es heil nach draußen geschafft und dürfen uns erstmal mit einem kräftigen Espresso stärken. Anschließend steuern wir mit dem Bus Cesena an, eine Stadt rund 100 km südöstlich von Bologna, und beziehen dort unser erstes, sehr komfortables Hotel.
Den Abend verbringen wir gemeinsam bei einem nicht enden wollenden italienischen Menü auf dem Marktplatz von Cesena in sehr schöner Atmosphäre. Während wir in Gespräche vertieft sind, fiebern die ortsansässigen Italiener vor einer Leinwand und dürfen schließlich über das 4:2 gegen Spanien bei der Fußballeuropameisterschaft jubeln.
Am zweiten Tag …
… starten wir gegen 8:30h und fahren zur Saatgutaufbereitung P.M.P. Sementi bei Cesena. Der Betrieb liegt wunderschön, unser Blick schweift über die leicht gewellte Landschaft der Emilia-Romagna. Das erste Gruppenfoto beweist es.
Etwa 250 Landwirt:innen bauen für P.M.P. auf mehreren Hundert Hektar Gemüsekulturen sowie Kräuter und Blumen an. P.M.P. wiederum arbeitet im Auftrag von Saatguthändlern in Europa und weltweit, darunter die Sativa Rheinau AG, die das Saatgut dann verpackt und vermarktet.
Saatgutaufbereitung
Die Vermehrung von qualitativ hochwertigem Saatgut ist eine herausfordernde Aufgabe, erklärt Nicola Pesaresi, Sohn des Unternehmensgründers. Die Anforderungen sind hoch und die Anbauer:innen leben stets mit dem Risiko, durch widrige Wetterbedingungen, Krankheiten oder Verunreinigung Ernte zu verlieren.
Da es viel Erfahrung und die richtige Maschinen-Ausstattung für den Anbau braucht, unterhält P.M.P. sehr langjährige Kontakte zu den Lieferant:innen. Abgenommen wird die Menge, die geerntet wird; mal ist es mehr, mal weniger. Für die Verarbeitung des gelieferten Saatguts werden je nach Kultur sehr unterschiedliche Maschinen benötigt.
Ruccola
Während unserer Besichtigung läuft die Gewinnung von Ruccola-Samen auf Hochtouren. Nicola erläutert, dass die Samen eine Mindestgröße haben sollten, um gut zu keimen und guten Ertrag zu bringen. Daher sortiert die Maschine drei verschiedene Samengrößen in drei große Säcke:
die optimale Größe, eine etwas kleinere Größe und Samen unterhalb der Norm. Letztere werden nochmals maschinell sortiert, um weitere verwendbare Samen herauszufiltern, schließlich soll so viel wie möglich verwendet werden. P.M.P. hat parallel einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb für die Vermehrung von Saatgut, z.B. für die bioverita-zertifizierte Möhre Rodelika.
Vermehrung in der Praxis
Anschließend besuchen wir den Vermehrungsbetrieb von Familie Maroncelli in Cervio bei Ravenna, der mit P.M.P. zusammenarbeitet. Auch wenn es noch Vormittag ist, ist es inzwischen sehr heiß. Umso mehr freuen wir uns, mit kalten Getränken, Aprikosen und Melonenstücken empfangen zu werden. Herrlich! Nebenbei erfahren wir von Senior Ezio, dass er den Betrieb bereits 1986 auf Bio umstellte – damals weit und breit der einzige. Ausschlaggebend waren seine Kinder, die bemerkten, dass es immer weniger Schmetterlinge auf den Äckern gab.
Das wollte er so nicht hinnehmen. Vor 16 Jahren hat sich die Familie mit der Saatgutvermehrung ein zusätzliches Standbein geschaffen. Von P.M.P. werden sie pro Fläche bezahlt, nicht pro geliefertem kg Saatgut; die Qualität steht im Vordergrund. Vermehrt werden die unterschiedlichsten Kulturen, z.B. Petersilie, Zicchoriensalate, Möhren, Rote Bete, aber auch Blumen wie Malven und Mohn, von denen auch Sativa einige im Programm hat.
Ideale Bedingungen im Freiland
Das meiste wird im Freiland angebaut. Nur Basissaatgut, das für die Weitervermehrung verwendet wird, wächst geschützt in Gewächshäusern. Eine Besonderheit: Um den Druck bodenbürtiger Krankheiten niedrig zu halten, sind die Gewächshäuser so konstruiert, dass sie in jeder Saison umgesetzt werden können.
Nach der Führung erfahren wir bei einem kleinen Abschlusssnack, dass man Aprikosensamen essen kann und wie lecker sie sind. Senior Maroncelli hat den Hammer parat, um die Aprikosenkerne aufzuschlagen. Sie enthalten Blausäure, aber sie schmecken wie Mandeln und gar nicht bitter. Schweren Herzens müssen wir uns verabschieden und begeben uns auf eine rund 200 km Busfahrt weiter nach Florenz.
Auf historischen Spuren
Hier erwartet uns mit 40 Grad der bis dato heißeste Tag des Sommers. Angekommen im Hotel, dürfen wir uns etwas frisch machen, um dann mit Stadtführerin Luise Hoffmann zu einem ausführlichen Rundgang aufzubrechen. Die Deutsche lebt seit 30 Jahren in der Toskana und leitet uns souverän durch das historische Gassengewirr, das voller beeindruckender Geschichte(n) ist. Coronabedingt erleben wir den Platz vor der Basilika Santa Croce fast menschenleer.
Der in Stein gehauene Dante Alighieri scheint es locker zu nehmen und das Wildschwein an der Fontana del Porcellino freut sich sichtlich über unsere bioverita-Kappe. Zum Glück finden wir während des dreistündigen Rundgangs auch Zeit für einen kulinarischen Zwischenstopp und genießen herrliches Gelato. Später fallen wir erschöpft in das Restaurant Il theatro ein, dessen Antipasti allein reichen würden, um uns für Tage abzufüllen. Aber da zeigt sich der Italiener wenig verständnisvoll …
Am dritten Tag …
… starten wir morgens nach Pisa, um dort das «Centro di Recerche Agroambientali `Enrico Avanzi`» zu besuchen. Es gehört zur Uni und hat derzeit 50 Masterstudierende in Agrarwissenschaften, 25 von ihnen für Ökologischen Landbau. Im Schatten alter Kiefern empfängt uns Direktor Marco Mazzoncini und erläutert, dass das Institut mit 700 ha Wald und 400 ha Anbaufläche über viel Land verfügt, aber von EU-Geldern und Projektförderungen abhängt.
Dank der Vermittlung von Federica Bigongiali ist das Uni-Institut seit 2016 an biologischen Züchtungsprojekten für Hartweizen, Weichweizen und Dinkel beteiligt, die von der Getreidezüchtung Peter Kunz und der Stiftung «Seminare il Futuro» finanziert werden. Ein Glücksfall für die Bio-Züchtung, da so die Einbindung in die universitäre Forschung gewährleistet ist und die Züchtungsarbeit mitgetragen wird von den 30 Mitarbeiter:innen des Instituts.
Hartweizen aus Bio-Züchtung
Vor allem Hartweizen hat eine große Bedeutung in Italien, da er die Grundlage für die Pastaherstellung ist. Aktuell gibt es noch keine Sorten aus Bio-Züchtung. Erfreulicherweise befinden sich aber zwei der bisher durch Selektion und Kreuzung entwickelten Sorten derzeit in der Anmeldung.
Das bedeutet einen großen Schritt, aber die Suche nach Sorten mit guten Eigenschaften hinsichtlich Anbau, Verarbeitung und Nahrungsqualität geht natürlich weiter. Beispielsweise werden versuchsweise Hartweizensorten aus Marokko angebaut und auch Kreuzungen mit ihnen vorgenommen, da sie besonders trockenheitsverträglich sind.
Landwirte sind beteiligt
Auch finden Kreuzungen mit Emmersorten statt, einem sehr alten Getreide, das noch kaum gezüchtet wurde, dem Hartweizen aber in vielen Eigenschaften ähnlich ist. Dieses Jahr wurden erstmals Landwirt:innen an der Selektion beteiligt, sodass ihre Anforderungen aus der Praxis unmittelbar mit in die Züchtungsarbeit einfließen. Federica freut sich über den guten Austausch mit ihnen.
Sie berichtet, dass die beteiligten Landwirt:innen ein Verständnis für die Komplexität der Züchtung und den finanziellen Aufwand entwickelt haben, was sonst nicht möglich wäre. Generell wird in Italien der Anbau alter Sorten propagiert. In der Praxis sind diese Sorten aber den heutigen Anforderungen häufig nicht gewachsen. Es braucht also einige Überzeugungsarbeit, sich mit neuen Sorten auseinanderzusetzen.
Gesucht: die perfekte Verarbeitungstomate
Auf den Flächen der Uni konnten wir anschließend den Versuchsanbau von 24 Sorten sogenannter Industrietomaten begutachten, die sich besonders für die Verarbeitung zu Saucen etc. eignen. Mit dabei: die bioverita-zertifizierte Sorte Mauro Rosso, von der später noch die Rede sein wird. Probieren können wir sie leider nicht, fast alle Früchte auf dem Feld sind noch grün. Wir erfahren, dass Verarbeitungstomaten spezielle Anforderungen haben: Da von ihnen große Mengen benötigt werden, wachsen sie im Freiland.
Die Früchte müssen möglichst gleichzeitig abreifen für die einmalige Ernte im August und sich gut für die maschinelle Verarbeitung eignen. Durch den Klimawandel wird der Anbau von Tomaten in Italien immer schwieriger, da das Wetter unbeständiger wird und es im Sommer mehr Niederschläge gibt als früher. Mithilfe des Versuchsanbaus gilt es herauszufinden, ob vielleicht gerade die Sorten aus Bio-Züchtung zukünftig das Potenzial haben, sich besser anzupassen als die Sorten aus konventioneller Züchtung.
La Selva in der Toskana
So eingestimmt auf das Tomaten-Thema fahren wir anschließend mit dem Bus rund 200 km nach Süden, um den Hersteller La Selva bei Grosseto zu besuchen. Während der langen Fahrt zieht die liebliche Landschaft der Toskana an uns vorbei. Die Erde ist sehr trocken, hier hat es lange nicht geregnet.
Bei La Selva empfängt uns herzlich Monika Mayer, die seit 20 Jahren als Lebensmitteltechnikerin für das Unternehmen arbeitet. Während sie von der Geschichte des Unternehmens erzählt, werden wir auf einer Terrasse mit weitem Blick wieder einmal mit wunderbaren Köstlichkeiten bewirtet. Natürlich gibt es auch Vino, Pasta und die ein oder andere Gemüsecreme aus dem La Selva-Sortiment. Wir sind wahrlich privilegiert!
Vier Hektar aus Bio-Züchtung
Wir erfahren, dass das Unternehmen 1980 von Karl Egger gegründet wurde, der auch Mitbegründer des Verbands Naturland ist. 1991 brachte er die ersten Bio-Tomaten-Spezialitäten nach toskanischer Rezeptur in den Handel, die bis heute prägend sind für die Marke. La Selva baut auf 700 Hektar selbst Gemüse und Oliven für die Verarbeitung an, kooperiert aber inzwischen mit vielen Produzenten aus der Region. Tomaten werden auf insgesamt 35 ha angebaut, aufgrund des zuverlässigen Ertrags dominieren wie fast überall Hybridsorten.
Umso mehr freuen wir uns, dass es 2020 einen Testanbau mit der Sorte Mauro Rosso aus Bio-Züchtung gab. Der Test war so erfolgreich, dass die Fläche dieses Jahr auf vier Hektar verdoppelt wurde. Gemeinsam besichtigen wir den weitläufigen Tomatenacker und nutzen die Chance, La Selva über die Vermarktung von Sorten aus Bio-Züchtung in Deutschland und der Schweiz zu berichten. Wie wunderbar, wenn die Erfahrung der mitreisenden Großhandelspartner:innen demnächst im wahrsten Sinne des Wortes Früchte in Italien trägt.
Auf nach Urbino
Mit sehnsüchtigem Blick auf das Meer in der Ferne, steigen wir wieder in den Bus und begeben uns auf eine weite Fahrt quer durch Umbrien nach Urbino. Fahrer Iulian ist nun stark gefordert, da es das Apenningebirge auf z.T. kurvigen Pisten zu überqueren gilt.
Wer von den Mitreisenden angesichts der vielen Eindrücke nicht in tiefen Schlaf gefallen ist, genießt aus dem Fenster die Gebirgskulisse und später die beeindruckende Hügellandschaft der Region Marken. Einigermaßen erschöpft beziehen wir unsere Zimmer und nehmen ein spätes Nachtmahl ein.
Am vierten Tag …
… weckt uns ein herrlicher Sonnenaufgang über den Hügeln der Marken. Die Frühaufsteher erkunden in der morgendlichen Frische gemeinsam das mittelalterliche Städtchen Urbino, das uns mit seinen trutzigen Mauern und seinem Palazzo Ducale nachhaltig in den Bann zieht. Dennoch heißt es bald weiterfahren, diesmal nehmen wir Kurs auf die Kooperative Girolomoni bei Isola del Piano. Sie vereint 400 Biolandwirt:innen, die Getreide für die Herstellung von Mehlen und Pasta produzieren.
Girolomoni kann mit Stolz von sich behaupten, der einzige Pasta-Hersteller Italiens zu sein, der die gesamte Wertschöpfungskette für die Produktion abdeckt: Vom Anbau des Getreides über die Reinigung, das Dreschen und Vermahlen bis hin zur Herstellung und dem Vertrieb unterschiedlichster Nudeln. Letztes Jahr wurden insgesamt 15.000 Tonnen Getreide, hauptsächlich Hartweizen, aber auch Dinkel, Emmer und Triticale Getreide geerntet und 10.000 Tonnen Nudeln daraus hergestellt. Nur zu 20 % werden diese auf dem italienischen Markt verkauft, 80 % gehen ins Ausland. In Deutschland sind sie unter der Marke Rapunzel erhältlich.
Testanbau von Getreide aus Bio-Züchtung
Nach einer Besichtigung der Reinigungs- und Mühlenanlage treffen wir Giovanni Girolomoni, Sohn des Gründers der Kooperative, und Francesco Torriani, der den Getreideanbau koordiniert. Die beiden berichten über die Herausforderungen der Produktion in der bergigen und immer trockener werdenden Region Marken.
Neue, anpassungsfähige Sorten aus Bio-Züchtung seien nicht nur wichtig, um ein echtes Bio von Anfang an zu realisieren, sondern auch um sich den Klimabedingungen besser anpassen zu können. Aus diesem Grund sind sie zusammen mit Ecornaturasí an der Stiftung «Seminare il Futuro» beteiligt und testen erste Hartweizensorten aus Bio-Züchtung im Anbau.
Pasta-Variationen
Bisher verwenden die Landwirt:innen der Kooperative in der Regel Biosaatgut, also Saatgut aus konventioneller Züchtung, das auf Bioflächen vermehrt wurde. Begleitet von Grillenzirpen wandern wir von unserem außergewöhnlichen Gesprächsort, dem Monastero di Montebello aus dem Jahr 1380, hinab zum Restaurant des Agriturismo von Girolomino.
Hier dürfen wir – mal wieder – ein köstliches Mahl einnehmen und u.a. mehrere der Pasta-Variationen der Kooperative probieren. Der Abschied fällt wirklich schwer, aber es lockt die Aussicht auf eine weitere interessante Besichtigung, diesmal nördlich von Bologna, in Reggio Emilia.
La Collina
Unser letzter Besuch führt uns auf den biodynamischen Betrieb La Collina von Andrea Ferretti. Auf 40 ha wird eine breite Palette von Gemüse angebaut. Sie dient der Direktvermarktung im hofeigenen Laden und in anderen Naturasí-Naturkostläden sowie auf verschiedenen Märkten der Region. Besonders wichtig ist der Anbau von Tomaten für die Herstellung von Passata, einer cremigen Tomatensoße.
So baut Andrea aus eigenem Interesse, aber auch im Auftrag von Sativa, 16 neue Tomatensorten an, die wir bereits an der Uni Pisa im Versuchsanbau gesehen haben. Bevor neue Sorten in die Anmeldung gehen, werden sie immer über mehrere Jahre an verschiedenen Standorten parallel getestet. Die 16 Sorten stammen aus der Züchtung von Mauro Buonfiglioni, der inzwischen jahrzehntelang Erfahrung in der Tomatenzüchtung hat. Wie der Name verrät, geht auch die Sorte Mauro Rosso auf ihn zurück.
Tomaten, Tomaten, Tomaten
Für Sativa arbeitet Mauro nicht nur an neuen Industrietomaten. Auf dem Hof La Collina findet auch Kreuzungs- und Selektionsarbeit für mehrere andere Tomatentypen statt: längliche Tomaten, die geschält und als ganze Frucht eingekocht werden, Buschtomaten mit Cherrytomaten für die Weiterverarbeitung sowie Tomaten für die Frischvermarktung. Für diese Projekte werden u.a. alte Sorten verwendet, in die moderne Resistenzen eingekreuzt werden. Amadeus Zschunke erläutert, dass Mauro außerdem an sogenannten Tomatenunterlagen züchtet.
Für den Erwerbsanbau werden derzeit fast alle Tomaten, egal welcher Sorte, im jungen Stadium auf eine Unterlage gepfropft, also auf eine Pflanze mit Wurzel, die oben abgeschnitten wurde. Diese Unterlagen müssen eine hohe Resistenz haben gegen die typischen Tomatenkrankheiten; bisher gibt es weltweit keine aus biologischer Züchtung. Gepfropfte Pflanzen sind nicht nur gesünder, sondern bringen auch einen deutlich höheren Ertrag. Die Entwicklung von Unterlagen aus Bio-Züchtung bedeutet also einen ganz wichtigen Schritt in Richtung «Bio von Anfang an»!
Zum Abschluss
Inzwischen ist es Abend geworden und die Sonne senkt sich langsam über Gewächshäuser und Gemüsebeete. Wir dürfen Platz nehmen an einer langen Tafel unter freiem Himmel und lassen die Erlebnisse der letzten Tage gemeinsam Revue passieren.
Wir konnten viele unterschiedliche Menschen kennenlernen, die sich in kleinen oder großen Strukturen, in generationenübergreifenden Familienbetrieben oder genossenschaftlich organisiert tagtäglich in Italien mit Leib und Seele für die Erzeugung von Bio-Lebensmitteln einsetzen, und auch die Bio-Züchtung in all ihren Facetten voranbringen.
Eine Reise voller Inspiration
So fahren wir mit vielen Ideen für Aktionen, Kooperationen und neue Projekte im Kopf nach Hause. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Bio-Züchtung immer im Kontext mit dem landwirtschaftlichen System betrachtet werden muss, denn eine Sorte allein bringt nicht Erfolg oder Misserfolg.
Der Anbau von Sorten aus Bio-Züchtung ist Teil einer nachhaltigen Landwirtschaft, die sich neben der Herstellung gesunder Lebensmittel bei geringer Nährstoff- und Wasserversorgung einer konsequenten Kreislaufwirtschaft und dem Aufbau und Erhalt von Humus kümmert. Hoch motiviert arbeiten wir weiter daran, dass die Sorten aus Bio-Züchtung immer mehr Verbreitung finden und hoffentlich einmal zur Selbstverständlichkeit werden!